Kurzgeschichten

Inspiriert durch kleine Begebenheiten in öffentlichen Verkehrsmitteln, Gespräche, angestoßen durch Literatur und die großen Fragen der Welt entstehen immer wieder kleine Geschichten. In den winzigen Details des Alltags spiegelt sich das große Ganze wieder.

Insel-Geschichte: Körperpflege des Service-Personals

 

Bei meinem ersten Besuch im „Zentrum“ der Insel will ich einfach nur eine Hühnersuppe essen. Ich setze mich ins Lokal, denn der Wind draußen ist mir zu kalt. Dort bestelle ich mein Süppchen und warte, während ich die Passanten auf der Straße betrachte und darauf hoffe, dass etwas passieren möge, was das Hinausschauen rechtfertigen könnte. Es passiert nichts dergleichen und mein Starren bekommt keine legitimierende Ausrede.

 

 

Meine Hühnersuppe kommt. Die Kellnerin und die Bardame plaudern hinter dem Tresen. Gerade noch haben sie sich über den kleinen Jungen der Nachbarin unterhalten, da driftet das Gespräch plötzlich gefährlich ab. Die Kellnerin schwelgt: „Mensch, so eine Fußmassage, das wäre doch was.“ Ich hatte mich schon für das banale Nachbarschaftsgesabbel geschämt, aber jetzt noch ihre heißesten Spa-Träume mit anhören? Oh Boden, tu dich auf...

 

 

Während ich darum bete, sie mögen angemessenere Gesprächsthemen finden, antwortet schon die Barista mit ihrer markanten Stimme: „Naja, manchmal so eine Pediküre, das ist schon ganz gut. Aber eigentlich creme ich mir nur ganz, ganz selten die Füße ein!“

 

 

Ich schaue in meine Hühnersuppe und hoffe inständig, dass es sich bei der Einlage nicht um regional-saisonale, frisch gehobelte Hornspäne handelt.

 

Topf Hoch - Ein Text für alle, die schon einmal ihre Kompetenzen in Frage gestellt haben

Ich fürchte, in meiner Kindheit ist etwas Schreckliches passiert.

 

Das sagen zwar viele, sobald sie bemerken, dass ihr Leben nicht ganz rund gelaufen ist, aber ich meine es ernst. Es muss ein anatomischer Eingriff vollzogen worden sein von ungeheurem Ausmaß für meinen weiteren Lebensweg. Ich vermute, dass man mich, den kleinen Wonneproppen, meiner wehrlosen Mutter kurz nach der Geburt unter einem Vorwand ala „Wir prüfen noch einige Gesundheitsparameter, gleich haben Sie ihr Neugeborenes wieder in den Armen“ entrissen hat, um ihm in einem schallisolierten, kleinen Hinterzimmer mit einer speziellen Apparatur den Daumen zu entfernen. Und zwar den grünen.

 

Jahrelang ist dieser Mangel nicht groß aufgefallen. Ich bin über das Gras gekrabbelt, habe auf Bäumen geturnt und habe Kastanien gesammelt, um daraus lustige Tiere zu basteln. Dabei habe ich akribisch darauf geachtet, nicht die Hand mit dem fehlenden Finger zu nutzen – und ich war erfolgreich. Ich habe es sogar trotz dieser Behinderung geschafft, meinen Eltern im Garten zu helfen – habe Äpfel gepflückt, altes Laub zusammengeharkt und Büsche beschnitten. Es fiel nicht weiter auf. Wobei - Erste Hinweise hätte die Bepflanzung meines „ersten eigenen Beetes“ geben können. Neben kleinen Walderdbeeren habe ich dort Karotten angepflanzt. Voller Vorfreude bin ich zur Erntezeit auf den Quadratmeter Erde zugeschritten und habe die reiche Ernte eingefahren: etwa büroklammer-lange, dünne Würzelchen mit etwas Grünzeug oben dran. Wenigstens orange waren sie, sonst hätte ich sie vielleicht tatsächlich einfach mit einem verbogenen Bürohilfsmittel verwechselt.

 

Nun, während meiner Reifezeit half mir die Schule mit ihren überwältigend vielen Hausaufgaben meine Freizeit so zu blockieren, dass ich um das Thema „Grünzeug“ einen großen Bogen machen konnte. Die Zimmerpflanzenversorgung übernahmen meine Eltern und auch der Garten war fest in ihren Händen – in ihren komplett grün-gestrichenen Händen. Sie ernteten von Jahr zu Jahr mehr Äpfel, auch der Kirschbaum trug immer reichere Früchte, sie gestalteten hier und da neue Sitzecken, die Rosen wuchsen prächtig und sie nahmen große Hürden auf sich. In Nacht- und Nebelaktionen wurden runde Steine von Feldern geklaut und bald waren auch die besten Stellen für das Gewinnen von Pferdemist ausbaldowert. So gediehen die Pflanzen im Garten, feng-shui-artig mit Steinen umrandet und dank der Fango-Behandlung mit den braunen Strohklumpen mussten sie sich fühlen wie in einem Wellnesshotel.

 

Doch nun ist alles anders. Keine Schule mehr, sondern eigene Wohnung. Ich werde plötzlich konfrontiert mit Geschenken in grün. Blumensträuße sind noch in Ordnung, die implizieren ja geradezu das Verwelken. Doch zum Einzug bekomme ich eine Hängepflanze. Ja, ich habe sie mir gewünscht, weil ich die Vorstellung einer natürlich-grün-schillernden Wohnung mit automatischer Luftverbesserung sehr attraktiv fand. Weniger attraktiv fand ich, dass diese Pflanze schon einige Wochen später die Kinderstube für eine Armada an Fliegen werden sollte …

 

- Das war mir schon immer schleierhaft. Auch im Biomüll. Wo bitteschön kommen da die kleinen Obstfliegen her? Kommen die von außen und fliegen durch meine Balkontür, durch meine Wohnung zielgerichtet zu meinem Mülleimer und fliegen im Moment des Öffnens hinein, um sich im Bällebad des Abfalls zu suhlen? Meine andere Theorie lautet, dass sich die Larven der Fliegen bereits in der Obstschale befinden… Die Vorstellung gefällt mir aber weniger gut.

 

Jedenfalls musste ich besagte Hängepflanze dann outsourcen und ebenfalls dem Bioabfall zuführen, da ich nicht die Ambitionen hegte, eine Fliegenherberge zu betreiben. Leider kam auch noch ein weiterer Kumpel beim Einzug auf die Grünzeug-Ideen. Na gut, ich habe mir auch dieses etwas größere Objekt gewünscht, aber es ging eigentlich vielmehr um den Effekt. Den Sicht-Schutz-Effekt. Ich wollte ein möglichst voluminöses, dichtes Bäumchen aufstellen, damit meinen direkten Nachbarn und deren neugieriger Katze der Blick auf meinen ansonsten kahlen Balkon verwehrt würde.

 

Ich habe mich für den Erhalt des Tannenbäumchens eingesetzt, mit aller Macht. Wirklich. Aber: Mehrere Stürme, der zu kleine Topf in Kombination mit eiskalten Temperaturen, dann mehrere Hitzeperioden, in denen ich mit dem Gießen nicht hinterherkam, haben dem Gestrüpp noch vor dem einjährigen Balkonjubiläum den Garaus gemacht. (Dass ich zwei Wochen im Urlaub war und vergessen hatte, jemanden um das Bewässern zu bitten, lassen wir mal schön hier in den Klammern stehen).

 

Das beigefarbene Häufchen Elend steht jedenfalls immer noch auf dem Balkon und verliert nach und nach seine verblichenen Nadeln. Wenn mein Kumpel zu Besuch kommt, habe ich sofort ein schlechtes Gewissen und fasle etwas von „Pilzbefall, hat mir mal ein Gärtner erzählt, haben die Dinger ganz häufig, da kommt man nicht gegen an, auch er als PROFI nicht…“. Mein Kumpel murmelt dann zurück „dir kann man echt nichts schenken, weißt du eigentlich wie teuer das Ding war…“. Mein zerknirschter Gesichtsausdruck bringt die Farbe der Nadeln leider auch nicht wieder zum Strahlen.

 

Aber das sollte ich eigentlich lassen, das Knirschen, denn bewiesenermaßen kann ich ja gar nichts dafür. Es handelt sich nicht einmal um einen genetischen Fehler, sondern um rabiate Eingriffe in meiner Kindheit!

 

Ich konzentriere mich seitdem darauf, mit einer Tüte in den Wald zu gehen, um dort Wildkräuter für Tee zu sammeln. Die wachsen ganz von alleine und halten einem nicht unter die Nase, wie viel sie ökonomisch betrachtet wert wären.

 

Ich finde dieses Arrangement der Mutter Natur verdient einen Emoji:

Daumen hoch.

Brückenbauer

 

Wenn wir gehen hinterlassen wir Löcher.
All die Angehörigen stehen am Rand des Kraters und blicken ungläubig in die Tiefe.
Manchmal schweigend, ganz still, andächtig, manchmal voller Verzweiflung und laut.
Manchmal wollen sie hinterherstürzen in die unsichere Tiefe oder einfach nur davonlaufen und vergessen.
Doch diese Löcher sind besondere Löcher, die sich nicht einfach verdrängen lassen.

Die Zeit heilt Wunden und die Zeit hilft, zu lernen, wie man Löcher flickt. Stich für Stich.
Jeder Stich tut weh und man ist sich nicht sicher, ob man nicht etwas falsch macht,
besser ein ordentliches Loch als ein narbenähnlicher Flicken?

Die Menschen werden kreativ, wenn sie beginnen die Löcher zu füllen.
Füllen sie mit Arbeit, mit Traurigkeit, mit Exzess, mit Vorwürfen, mit Stille und Einsamkeit,
mit neuen Freunden, mit Fernsehen, mit Extremsport, mit vielem,
was nur ein Sandkorn in der Leere ist.

Warum lassen wir das Loch nicht einfach dort, schauen es an und gehen drum herum?
Warum wollen sie zwingend vergessen und ersetzen?
Damit der Wahnsinn des Alltags weiterrasen kann???
Oder damit es nicht mehr schmerzt?
Ist es unfair, dass wir ersetzbar sind oder notwendig zum Überleben?
Der Körper schließt Wunden, Sand mit Zeit und Wind große Krater.

Wünschen wir uns für unsere Hinterbliebenen schmerzende große Löcher,
in die sie von Zeit zu Zeit zu fallen drohen und die sie dazu bringen auch nach Jahren noch
traurig ein Gedeck mehr auf den Tisch zu stellen, obwohl es niemanden gibt, der es nutzt?

Oder wünschen wir uns, dass sie Brücken und Glasscheiben über den Kratern konstruieren, damit sie MIT ihnen leben können.
Die Löcher, immer noch sichtbar,
aber unsere Nächsten haben gelernt, mit ihnen umzugehen.
Die Welt sieht nicht zerstört, zerlöchert, zerfetzt aus, sondern gleicht einem kreativen neuen Werk.
Vielleicht waren wir es, die ihnen beigebracht haben, Brücken zu bauen und erst jetzt wissen jene diese Fähigkeit einzusetzen.
Und wir, wir haben nicht nur ein Loch hinterlassen,
sondern auch Menschen, die Brücken bauen.