Wortporträts

Wortporträts sind keine Abfolge von harten Fakten und Lebensdaten. Vielmehr sind sie eine Patchworkdecke aus dem Stoff, aus dem unser Leben gemacht ist: aus lebendigen Geschichten.

 

Mit einfühlsamen, charakterisierenden Worten lassen sich Skizzen von Menschen anfertigen, zwischen deren Linien die Erinnerungen der Zuhörer*innen und Leser*innen Platz finden. Liebgewonnene Personen werden so beschrieben, dass Angehörige sich direkt an kleine Details wie das kritische Heben der linken Augenbraue erinnern oder an den unverwechselbaren Tonfall, mit dem dieser Jemand einem Mut und zugleich ein wenig Feuer unterm Hintern macht oder machen konnte. Denn die sehr persönlichen Texte eignen sich als sowohl als Reden für Hochzeit, Jubiläum oder Geburtstag als auch für den Abschied im Rahmen einer Trauerfeier.

 

Da es sich um sehr sensible Texte handelt, finden Sie hier einen leicht abgewandelten Auftragstext, der aus der Perspektive der Enkelin der Verstorbenen geschrieben wurde.

Besuche bei Oma

 

Besuche bei Oma begannen mit einer langen Autofahrt und meinem braunen Spielekoffer. Sie waren ein Ausflug in die Vergangenheit. Die behäkelte Nackenrolle in unterschiedlichen Brauntönen, der alte, beige Stofflampenschirm im Gästezimmer, das grün geflieste Bad mit Museumscharakter, schwarz-weiß-Fotografien, die gut gefüllte Speisekammer und Kühltruhen, die jegliche Notstandszeiten überbrücken konnten – sie war kulinarisch immer für alle Fälle gerüstet. Die Geschichten aus alten Zeiten über den Hausbau, längst verstorbene Familienangehörige oder die Kennlerngeschichte vom theaterspielenden Gerd. Die rauen, braunen Teppichquadrate, unter denen ihre Enkel einmal heimlich Nachrichten auf Zettelchen versteckten.

 

Badekugeln, ihr Parfüm, mehrere goldene Ringe an ihren Fingern. Der zugestellte Dachboden mit dem Marder. Die frechen Hühner, die manchmal zu den Nachbarn entwischten, Schmetterlingsschwärme, Vögel in den Bäumen oder im Winter im gut gefüllten Vogelhäuschen. Oma Erna und ihr Haus gehörten einfach zusammen. „Das Haus und der Garten“ waren ihre größte Freude und zugleich die größte Aufgabe, die ihr häufig zu viel wurde.

 

 

Besuche bei Oma bedeuteten, dass fürs leibliche Wohl gesorgt war. Abends gab es Schnitzelreste oder auch mal Milchreis vom Mittag, zum Frühstück stand meist ein Marmorkuchen mit Schokoglasur auf dem kleinen Teewagen bereit. Die Brötchen wurden von ihr nie in zwei Hälften, sondern in drei runde Getreideteller geteilt. Zum Mittag herrliche Hausmannskost, wenn die große Familie beisammensaß – Salzkartoffeln mit Petersilie, Bohnen mit in Butter geschwenkten Semmelbröseln, die berühmte braune Soße, ein Braten. Für das Kartoffelschälen stand sie in der Küche über eine große Schüssel gebeugt und nutzte keinen sogenannten Sparschäler, sondern ein kleines Küchenmesser, welches feine Schnitte in ihrem Daumen hinterließ. Zum Nachtisch gab es meistens Eis. Häufig die Variation „Vinetta-Schicht-Eis“, eine Komposition der Marke Aldi, deren weißes, weichschmelzendes Vanilleeis einen grandiosen Kontrast zu den harten Zartbitter-Schokoladenschichten herstellten. Nicht verwendete Essensreste, vor allem olles Brot, wanderten in den Hühnereimer und weichten dort langsam ein. Es sollte nichts verkommen.

 

 

Waren meine Eltern einmal unterwegs und Oma und ich nur zu zweit zum Mittag, gab es ein herrlich-einfaches Essen: bunte Nudeln mit einem Klecks Butter und Zimt und Zucker. Nachmittags folgten prächtige Kuchen oder gar Torten. Zu Weihnachten verschenkte sie kiloweise Kekse: Tante-Emma-Kekse, Gebäck mit Walnusskernen, mit Marmelade gefüllte Kekse, Vanillekipferl, … Dazu gab es häufiger ihre beliebtesten Weihnachtsgeschenke: Entweder Socken (kann man ja immer gebrauchen) oder ein Buch, welches über den Bertelsmann-Buchclub erstanden worden war.

 

 

Kochte sie mal nicht zu Hause, wurde auswärts gegessen: Immer dabei war ihre Handtasche, deren Existenz in beinahe regelmäßigen Abständen überprüft wurde. Darin verstaut: alle oma-wichtigen Dinge wie Taschentücher, Portemonnaie, Regenschirm, Plastiktüten (vor allem für Pilztrophäen auf Waldspaziergängen) und ein paar alte Bonbons. Auch beim Osterspaziergang vor vielen, vielen Jahren durch den nahegelegenen Wald war ihre Handtasche dabei und Oma hatte einen kindischen Spaß daran, unbemerkt von ihren Enkeln kleine, bunte Schokoeier aus der Tasche zu ziehen und diese auf den Weg zu streuen. Erst später stellten wir empört fest: Oma, das warst ja du!

 

 

Stets begleitet wurden die Oma-Reisen von einem wechselnden Kanon aus Sprichwörtern und erinnerten Gedichtzeilen aus Schulzeiten. Typisch waren auch ihr Gang mit kleinen Schritten zum Telefon, wenn dieses läutete, und das Abheben mit dem langgezogenen, fragenden dennoch sehr ernsthaften „Hallooooo?“. Ging es ihr nicht so gut oder drohte sie in ihrem Jammern einzugehen, half meist ein flotter, frecher, aber wohlgemeinter Spruch, der die zusammengezogenen Augenbrauen nach oben sausen ließ und ihr ein „Na, du bist mir vielleicht eine*r“ entlockte. Dabei schaute sie einen verschmitzt mit einem breiten Lächeln an und man konnte ahnen, dass sie selbst innerlich ein ganz schöner Schelm war.

 

 

Besuche bei Oma bedeuteten für mich auch kostbare Zeit in den frühen Morgenstunden, wenn ich nicht mehr schlafen konnte. Auf leisen Socken schlich ich ins Wohnzimmer und entdeckte sie dort meist unter ihrer Haube sitzend und ihrem dünne werdenden Haar zu mehr Volumen verhelfend mit einer Klatschzeitschrift oder der Tageszeitung in der Hand. Dann begannen wir, zusammen Kreuzworträtsel zu lösen. Natürlich auf die gewiefte Art und Weise: Mit Kreuzworträtsel-Lösungs-Büchern. Wir malten uns aus, wie wir die vielen Preise gewannen und gemeinsam das Geld verprassten. Wohlbehütet saßen wir dort, umschlossen von den Bücherwänden, in denen sich vor allem die Lexika-Schinken nur selten vom Platz bewegten. Abends war es dann ein Fest, die automatischen Rollladen per Druck auf den unteren dreieckigen Knopf heruntersurren zu dürfen.

 

 

Zum Abschied dieser Ausflüge in das Haus voller Vergangenheit gab es immer eine Naschitüte „für eine gute Heimfahrt“ und als wir schließlich vom Hof fuhren, begleitete uns ein strahlendes Lächeln und ein großes, energisches Winken, bis man sie nur noch als kleinen, hin- und her-wischenden Punkt erkennen konnte, der einem alle besten Wünsche mitzuschicken schien.